Katharina Grosse: It Wasn’t Us @Hamburger Bahnhof

By MBS

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Wir waren es nicht

Katharina Grosse @Hamburger Bahnhof

Doch. Keine Ausreden mehr. Systeme werden unumkehrbar kippen, wenn wir unser Verhalten nicht nachhaltig ändern. Wie unter einem Brennglas zeigt die Pandemie Fehlentwicklungen und Fehlverhalten auf, manche machen einfach weiter wie vor der Krise, business as usual. Aber das Virus verdeutlicht uns Woche für Woche immer mehr, was schon lange im Argen liegt.

Erneuerung überholter Strukturen ist alternativlos und setzt oft erst negative, dann aber positive Energien frei. Diese besondere Dynamik visualisiert Katharina Grosses Intervention im und hinter dem Hamburger Bahnhof It Wasn’t Us in beeindruckender Weise.

Natürlich habe ich an keine Pandemie gedacht, als ich den Titel formulierte. Aber gerade jetzt merken wir, wir dürfen uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Alles hat eine Wirkung, alles beeinflusst sich gegenseitig.

Ein ganzes System kann kippen, wenn sich nur eine Winzigkeit ändert. Das ist in einem Bild so, das ist in der echten Welt so. [Katharina Grosse]

In der Planungsphase zu dieser Ausstellung war sich Grosse der Umwälzungen bewusst, die der Klimawandel mit sich bringt, ebenso entgrenzt wie ihre Farbraumkunst setzt er unaufhaltsam seinen expansiven Weg fort.

Ihr Werk transformiert schon mal den Hamburger Bahnhof: Aller Anfang ist steinig, aber dann sprengt der Farben- und Formenrausch die wohlgeordnete Umgebung der Haupthalle auf und ergießt sich durch das geöffnete Tor in den Außenbereich bis über die Rieckhallen.

Perspektivwechsel ist daher nicht nur hier angeraten: Indem man den Standort verändert, ändert sich auch der Eindruck. Von innen gesehen scheint ihre Intervention zum Absprung anzusetzen, die Begrenzungen des Raumes hinter sich lassend, von außen sieht es nach einer Landung aus.

Die Pandemie hat ihrem Werk nun eine weitere Deutungsebene hinzugefügt. Solch komplexe Zukunftsthemen sind vielschichtig und unberechenbar, nicht alle Folgen und Aspekte der Entwicklungen lassen sich vorhersehen und doch ist Verantwortung dafür zu übernehmen.

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Denn es lohnt sich: Vor 25 Jahre schrieb Christo nicht weit entfernt mit seiner zeitlich begrenzten Verhüllung des Reichstages Kunstgeschichte.

Er verwandelte das Gebäude und seine teils schwierige Geschichte über die äußere Form in einen kollektiven Sommertraum und stärkte damit auch das neue Selbstverständnis Gesamtdeutschlands.

Im Kontext der Pandemie und des Klimawandels entfaltet Grosses Werk eine ähnliche Faszination. Sie löst die räumlichen Grenzen des Hamburger Bahnhofs auf, schafft neue Bezüge zwischen innen und außen und verbindet unterschiedliche Ebenen wie Böden, die Körper drinnen und die Malerei draußen mit ihrem expressivem Farbenfluss.

Statt mit Stoff verhüllt sie Körper, Umgebung und Architektur mit Farbe. Ihre Aktionskunst ist überall, rahmen- und begrenzungslos; selbst im Inneren des skulpturalen Objekts in der Halle verschmelzen Farbe und Form. So verbinden sich Architektur und Skulptur zu einem Farberlebnisraum, der Betrachter taucht in Grosses kaleidoskopische Farbwelten ein und wird selber Teil ihrer Inszenierung.

Auch die Wege draußen und die Außenhülle der Rieckhallen sind von Grosses Malerei überlagert. Innen kann man letztmalig die Sammlung Flick besichtigten, nach dem geplanten Abriss werden hier 2021 weitere Wohnblöcke entstehen, beworben mit Wohnen am Kunstcampus, den es dann aber so nicht mehr gibt.

Vor allem der im letzten Container festinstallierte Schmerzraum von Bruce Nauman Room with My Soul Left Out, Room That Does Not Care wird ein großer Verlust für die Kunststadt Berlin sein, sein Titel könnte die stadtplanerische Situation nach dem Abriss nicht treffender beschreiben.

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Wollen wir in Räumen ohne Seele mit Menschen ohne Verantwortungsbewusstsein leben? Wohnen am Hinterausgang des Hamburger Bahnhofs ist wohl nicht das, wofür die Bewohner der Europacity viel Geld bezahlen und was die Anziehungskraft dieses Ortes für Kunst- und Kulturinteressierte noch ausmacht.

Der Abriss ist ein weiteres Beispiel für verfehlte Berliner Stadtplanungspolitik, wenn die Rieckhallen sowohl als historisches Baudenkmal, als letzter Rest des Güterbahnhofs Berlins wie auch als singuläres Kunstdenkmal der gebauten Eintönigkeit weichen müssen.

Früher bemalte die 1961 in Freiburg geborene Katharina Grosse mit einer langstieligen Sprühpistole schon existente Umgebungen, nun auch die extra für diesen Ort angefertigten Formationen aus Styrodur.

Leider kann Katharina Grosse temporäre Begrenzungen nicht auflösen, aber die Ausstellung ermöglicht bis zum 10.1.2021 einen fast risikofreien und erkenntnisreichen Kunstgenuss. Die Anzahl der Besucher ist online reglementiert, es gilt Mundschutzpflicht.

Zeitgleich sind die beiden Sonderausstellungen To Whom It May Concern mit Werken der Sammlung Paul Maenz bis zum 5.7.20 und Zeit für Fragmente aus der Sammlung Marx und der Sammlung der Nationalgalerie bis zum 4.10.20 zu sehen.

Das geöffnete Tor belüftet die Halle, ein Besuch daher auch unter Beachtung der Hygiene- und Abstandsregeln empfehlenswert. ©Fotos: MBS

Update: Ende 2022 kaufte das Land Berlin die Rieckhallen und erhält dem Hamburger Bahnhof damit die Ausstellungsfläche. Manchmal entwickelt sich in dieser Stadt auch etwas zum Positiven. 🙂

Weitere Impressionen der Ausstellung im Video1:

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  1. Videonachweis: https://www.youtube.com/watch?v=kb3ZcV0_pG4, ©Kunstleben Berlin, Zugriff 25.06.20.
  2. Vgl. Brown, o. J.

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