By MBS
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1documenta 14 Bashing scheint zum guten Ton der Feuilletons zu gehören: Die Süddeutsche titelte Bevormundung, ZEIT Online Selbstgerechtigkeit und forderte gleich noch, Kuratoren ganz abzuschaffen, die FAZ ergriff sogar Unbehagen; aber aller negativen Kritik zum Trotz verzeichnete die d14 Besucherrekorde. Vor allem wurde viel theoretisiert, aber mit wenigen Artikelbildern ist Kritik schlecht nachvollziehbar.
Hier ist das Verhältnis andersherum, der geneigte Leser kann sich selber ein Bild machen, ob die d14 gelungen ist. Vielleicht halten sich die Betrachter einfach an das Motto des künstlerischen Leiters Adam Szymczyk und lassen sich auf eine ‘Erfahrung ohne Erwartungen’ ein. Dann nämlich hat jeder hier die Möglichkeit, etwas für sich zu entdecken, damit in Resonanz zu gehen und diesen Eindruck nachhaltig wirken zu lassen. ©Fotos: MBS
Eine so große Ausstellung wird immer Werke zeigen, denen man ganz individuell nur einen kurzen Blick schenkt. Aus der Presse werden überwiegend Bilder des Parthenon der Bücher von Marta Minujín im kollektiven Gedächtnis verbleiben, weil er plakativ und etwas überdimensioniert vor dem Museum Fridericianum interveniert und sich als Keyvisual für die Artikel so gut eignet.
Konzeptionell ist ihre Absicht, die Besucher der d14 am Aufbau ihres Parthenons mit eigens mitgebrachten, ehemals verbotenen Büchern mitwirken zu lassen, ein schöner Gedanke. So wird am zentralen Ausstellungsplatz auch ein visueller Bezug zum anderen Ausstellungsort Athen genommen. Leser, die sich einen Eindruck von den Werken in Athen verschaffen wollen, empfehle ich die Bildübersicht von Tagesschau.de.
Wenn man sich aber für die anderen Ausstellungsorte jenseits des zentralen Friedrichplatzes Zeit nahm, konnte die wirklich spannenden Positionen entdecken. Meines Erachtens lohnten vor allem die dezentralisierten Standorte wie die Neue Galerie und die Neue Neue Galerie den etwas weiteren Weg. Hier beeindruckte insbesondere der Künstler Theo Eshetu mit der großformatigen Videoinstallation Atlas Fractured.
Der 1958 als Sohn einer Holländerin und eines Äthiopiers in London geborene und nun in Berlin lebende Eshetu visualisierte fast philosophisch anthropologische Bezüge in seinen Arbeiten. Atlas Fractured anstand auf der Basis eines gedruckten Werbebanners des Ethnologischen Museums Berlin, das Eshetu vor der Zerstörung rettete und facettenreich mit seinen digitalen Überblendungen erweiterte.
Alte Götter, klassische Büsten und Portraits wechselten sich mit Gesichtern der Geschichte und neuzeitlichen Ikonen wie Bowie, aber auch unbekannten Gesichtern mit intensivem Ausdruck ab und erschufen so einen gesamtgeschichtlichen Atlas der Menschheit.
Visuelle Gegensätze wurden durch die Überblendung der Portraits harmonisch verbunden; denn letzten Endes sind alle Menschen trotz Diversität in ihrer Physiognomie gleich. Das Ganze noch untermalt mit einem Soundteppich, der den Bilderrausch drogenfrei vollendete. Eine kultursoziologische Transformation in 35 Minuten.
In der Mythologie trägt der Titan Atlas die Welt auf seinen Schultern; gerade im Kontext aktueller politischer Kontroversen könnte man den Titel auch so interpretieren, dass Menschen jeglicher Herkunft mehr Verantwortung für unsere Umwelt übernehmen sollten, um sie zu erhalten.
Auch wenn man es nicht gerne sieht, ist dieses Portrait leider prägnanter Teil unserer Geschichte.
Sollten die Bilder verschoben wirken, hilft es, die Größe des Fensters zu variieren.
Bildnachweise: Atlas Fractured, 2017 ©Theo Eshetu. ©Fotos: MBS
Das Video2 unten verdeutlicht nochmal den Gesamteindruck vor Ort.
Für Ihren nächsten Ausstellungsbesuch eine Auswahl aus aktuellen Kollektionen (*Anzeige):
Bildnachweis unten: ©Foto: MBS
Bildnachweis oben: Kassel Ingot Project (Iron), 2017 ©Dan Peterman. Installation aus weißen Säcken gefüllt mit recycelten Eisenbarren aus Eisenstaub; mehrere Standorte
Installation im Hintergrund: Pile o’ Sápmi, 2017 ©Máret Ánne Sara. Vorhang aus Rentierschädeln.
Die Schädel stammten aus der Herde der Künstlerin, die sie auf Druck der norwegischen Regierung dezimieren musste.
Bildnachweis: Pile o’ Sápmi, 2017 ©Máret Ánne Sara. Gegossene Porzellanhalskette aus der Asche von Rentierknochen
Bildnachweis: Criollo, 2017 ©Ross Birrell. Digitalvideo
Der schottische Künstler Ross Birrell konzipierte auch den realen Ritt von 4 Reitern von Athen nach Kassel (The Transit of Hermes) als Bezug zur Balkan-Route der Flüchtlinge.
Der Criollo, eine argentinische Pferderasse, steht fast regungslos im Großstadtgetümmel und wird zu meditativen Ruhepol. Der Betrachter trat durch die scheinbare Fokussierung des Tieres zu ihm in Beziehung, was durch eine Zeitlupe noch verstärkt wurde.
Bildnachweis oben: Aus der Serie: MURRILAND! 2015–ongoing ©Gordon Hookey.
Bildnachweis oben: ©Foto: MBS.
Bildnachweis oben: Real Nazis, 2017 ©Piotr Uklański. 203 C-Prints
Diese Arbeit von Piotr Uklański basierte auf seinem ersten Zyklus ‘Die Nazis’, bei dem er 1998 Schauspieler in Naziuniformen abbildete.
Bildnachweis oben: ©Foto: MBS.
Bildnachweis oben: Rose Valland Institut – Unrechtmäßig erworbene Bücher aus jüdischem Eigentum, 2017 ©Maria Eichhorn
Das Institutskonzept sollte Aufmerksamkeit für weiterhin ausstehende Restitutionsansprüche auch für andere gestohlene Kunstwerke verstärken.
Bildnachweise oben & unten: A War Machine, 2017 ©Sergio Zevallos
Der peruanische Künstler Sergio Zevallos lebt seit 1989 in Deutschland im Exil. Gewalt an Menschen auch in seiner Heimat ist bis heute Thema seiner komplexen Werke.
In dieser Arbeit kehrte er den Gedanken des edlen Wilden um und wählte Personen aus, die direkt oder indirekt am Töten von Menschen beteiligt sind. Von ihnen wurden Kopfmodelle erstellt, die mit organischen Substanzen geschrumpft wurden. So sollte die Lebensenergie der ‘Geschrumpften’ auf die Opfer übergehen.
Bildnachweis oben: Ohne Titel, 1984 ©Lorenza Böttner
Ein Thema der d14 war die Frage nach der Definition von Normalität und wer hierfür die Kriterien festlegt. Der Transgender Lorenza Böttner, seit einem Unfall ohne Arme, malte das großformatige Wandgemälde mit den Füßen.
Bildnachweis oben: The Chess Society, 2017 ©Bili Bidjocka
‘The Chess Society’ lud Schachspieler in Kassel in der Gottschalk-Halle und auf der Webseite www.thechesssociety.com/#home ein, mit Spielern in Athen zu spielen.
Inschrift auf dem Vorhang, aus dem Französischen übersetzt:
Ich habe das Gefühl, es entsteht eine Liebesgeschichte zwischen der Kellnerin und dem großen schwarzen Putzmann.
Banu Cennetoglu, Kendell Geers, Panos Kokkinias, Costas Tsoclis, Pavlos Dionysopoulos, Carlos Garaicoa,
Dimitris Tzamouranis, George Lappas, Takis, Stathis Logothetis, Nikos Tranos, Emeka Ogboh, Pedro Cabrita Reis
Bildnachweis oben: Beingsafeisscary, 2017 ©Banu Cennetoglu
Das Fridericianum zeigte die Sammlung des Athener Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst (EMST) und griff damit den Untertitel der d14 ‘von Athen lernen’ auf. Die Werke kommentieren die heutigen Realitäten Griechenlands.
Die Original-Giebelbeschriftung des Museums Friedericianum wurde von der türkischen Künstlerin Banu Cennetoglu nach einem Graffiti an der Universität Athen modifiziert. Selbst Verlegerin von Kunstbüchern fokussiert sie in ihrer Arbeit auf das geschriebene Wort und die Weitergabe von Überzeugungen durch Zeichen.
Bildnachweis oben: Acropolis Redux (The Director’s Cut) 2004 ©Kendell Geers. Stacheldraht und Stahlregale
Der Südafrikaner Kendell Geers inszenierte eine martialische Systematisierung von Abgrenzung.
Bildnachweis oben: A Happening, 1973 ©Dimitris Alithinos. Gips, Holz, Tonbandgerät, Lampe
Über 40 Jahr später leider immer noch eindrücklich aktuell.
Bildnachweis oben: Slumber, 1994 ©Janine Antoni. Webstuhl, Bett, Garn, Ausdruck der REM-Werte der Künstlerin
Der Webstuhl webte die von einem Elektroenzephalographen aufgezeichneten REM-Kurven der in der Installation schlafenden Person als Muster in den Stoff. So wurden auf abstrakte Weise Träume sichtbar und haptisch erfahrbar.
Bildnachweis oben: Sails, 1981-82 ©Bia Davou. Stoff
1981 übersetzte sie das Reimschema der Odyssee in serielle Strukturen auf weiβen Segeln oder Leinwänden, die eine Parabel von Odysseus‘ Reise enthalten.
So konzipierte sie eine Präsentationsserie mit Segeln, die sich immer mehr frei im Raum entwickeln von festen Segeln auf stabilen Basen bis hin zu hängenden Stücken aus dreieckigem, leicht gewoben und selbst gefärbtem Stoff. Die Segel werden dem jeweiligen Raum entsprechend installiert, in dem sie gezeigt werden.
Bildnachweis oben: Nisyros, 2014-2015 ©Panos Kokkinias. Archiv-Inkjet-Print
Die Detailfülle des griechischen Fotografen Panos Kokkinias erinnert an Andreas Gursky.
Bildnachweis oben: Harpooned Fish, 1985-2000 ©Costas Tsoclis. Video, Farbe, Acryl
Der Speer ist echt, der Fisch im Video nicht. Trotzdem protestierten Tierschützer gegen die erste Ausstellung auf der Biennale in Venedig ’86.
Bildnachweis oben: ©Foto: MBS.
Videoinstallation auf dem Boden der Eingangshalle: The End, 2007 ©Nikos Alexiou
Bildnachweis oben: Bolduc, 1980 ©Pavlos Dionysopoulos. Geschenkband in 3 Acrylkästen
Objekte, oft auch verschiedenfarbiges Geschenkband in Acrylkästen sind wiederkehrende Themen in seinen Arbeiten.
Bildnachweis oben: Photo-Topography, 2011 ©Carlos Garaicoa
Ein Denker baut jeden Tag sein kleines, persönliches Utopia.
Bildnachweis oben: ©Foto: MBS.
Bildnachweis oben: 36° 45’N-021° 56E, 2015 ©Dimitris Tzamouranis. Öl auf Leinwand
Der Berliner Künstler ist Meisterschüler der UdK Berlin.
Bildnachweis oben: Abacus, 1983 ©George Lappas. Der Abakus ist eines der ältesten bekannten Rechenhilfsmittel und vermutlich sumerischen Ursprungs.
Der 2016 verstorbene George Lappas war einer der wichtigsten Bildhauer und Installationskünstler Griechenlands.
Bildnachweis oben: Gong, 1978 ©Takis
Das Video3 unten verdeutlicht das audiovisuelle Konzept dieser Installation:
Bildnachweis oben: ©Foto: MBS.
Installation im Hintergrund: E273, 1980 ©Stathis Logothetis
Bildnachweise oben: A Glacier at Our Table, 2013 ©Nikos Tranos. Glasierter Ton und Holz
Die Agglomeration von seltsamen, aber auch erkennbaren Formen setzte organischen künstliche Objekte gegenüber.
Alles ist etwas deformiert, aber auch mit Humor und Fantasie dargestellt. Erkennbar urbane Strukturen mit ungewöhnlich vernetzten Verbindungen und Türmen ergaben ein seltsames Gesamtkonstrukt, das aus sich selbst heraus zu wachsen scheint. Der Tisch als weitere Bedeutungsebene erdete das Gebilde wieder.
Bildnachweise oben: The Black Monochrome, 2003 ©Pedro Cabrita Reis. Acryl auf Glas in Aluminiumrahmen
Pedro Cabrita Reis untersucht in seinen Arbeiten Fragen zu Farbe, Raum, Architektur und kulturellem Gedächtnis. Er konfrontiert den Betrachter mit interessanten Spektren aus mit Acrylfarben bemalten Glasfeldern sowie dem gespiegelten Ich.
Bildnachweis oben: Werbung für Sufferhead Original Stout, 2017 ©Emeka Ogboh
Vor dem Fridericianum wurde das documenta-Bier beworben. Der Künstler Emeka Ogboh reflektierte mit seiner Craft-Beer Rezeptur (mit Chili!) seine oft stereotypen Erfahrungen als schwarzer Ausländer in Deutschland.
Bildnachweis oben: ©Foto: MBS.
Guillermo Galindo, Aboubakar Fofana, El Hadji Sy, Cecilia Vicuña, Miriam Cahn, Prinz Gholam, Hiwa K
Bildnachweis oben: Fluchtzieleuropahavarieschallkörper, 2017 ©Guillermo Galindo. Installation aus Überresten von Glasfaser- und Holzbooten, Rettungsring und Paddel aus Lesbos
Der mexikanische Künstler baute Instrumente mit Saiten und Klangröhren aus zerstörten Schiffswracks, die er auf Lesbos gefunden hat.
Bildnachweis oben: Fundi (Aufstand), 2017 ©Aboubakar Fofana. Decken-Installation aus Textilien auf der Grundlage von Naturfasern, gefärbt in organischem Indigo in Bamako und Athen
Der in Mali geborene Künstler erinnerte mit dieser Arbeit an die Rebellion der Indigo-Bauern 1859 im britisch besetzten Bengalen.
Bildnachweis oben: Les agriculteurs (Die Landwirte), 2016 ©El Hadji Sy. Acryl auf Jute
Der senegalesische Künstler und Kurator malt mit satten Farben auf ungewöhnlichen Untergründen wie Jute und Teer.
Bildnachweis oben: Quipu Gut, 2017 ©Cecilia Vicuña. Gefärbte Wolle
Quipu ist eine Art Knotensprache aus Fäden und Knoten, die im alten Peru der Kommunikation diente.
Bildnachweis oben: ©Foto: MBS. Bild im Hintergrund: könnteichsein ©Miriam Cahn.
Die Schweizer Künstlerin thematisiert in ihrer Malerei Folter, Flucht und die Rolle der Frau.
Bildnachweis oben: Speaking of Pictures, 2017 ©Prinz Gholam. Digitalvideo
Der Deutsche Wolfgang Prinz und der Libanese Michel Gholam nutzen ihre eigenen Körper als zentrale Elemente für gemeinsame Performances.
Bildnachweis oben & unten (vor der documenta-Halle): When We Were Exhaling Images, 2017 ©Hiwa K. Steinzeugrohre, Leimbinder, Möbel, diverse Gegenstände
Der irakisch-deutsche Künstler vermittelte ironisch einen ‘gemütlich eingerichteten’ Einblick in das Leben der in Griechenland gestrandeten Flüchtlinge.
Sie müssen teilweise in Abwasserrohren leben und das sicher nicht mit eingebautem Bad.
Bildnachweis oben: ©Foto: MBS.
Bildnachweis oben: The Mill of Blood, 2017 ©Antonio Vega Macotela. Stahl, Holz, Glas
Der mexikanische Künstler installierte vor der Orangerie ein Holzkonstrukt mit dicken Zahnrädern, das den Nachbau einer Mühle darstellt, mit der Arbeiter, unter ihnen auch Sklaven, in Bolivien Silbermünzen herstellten.
Bildnachweis oben: Die Entstehung des Westens, 2017 ©Romuald Karmakar. Laufschriften-Installation am Westpavillion der Orangerie
Bildnachweis oben: Trassen, 2017 ©Olaf Holzapfel. Bemaltes Holz
Diese Arbeit ist Teil der crossmedialen Werkgruppe Zaun zu den Themen Grenzen, Zwischenräume und Trennlinien.
- Bildnachweise: Atlas Fractured, 2017 ©Theo Eshetu. Auf Banner projiziertes Digitalvideo ↩
- Videonachweis: Atlas Fractured, 2017. https://www.youtube.com/watch?v=cPij2q15TTw ©MCASA. Auf Banner projiziertes Digitalvideo ↩
- Videonachweis: https://www.youtube.com/watch?v=zg0XxxgpoP4, Zugriff 20.7.2017. ©VernissageTV ↩
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